Gestern Olli Kahn heute Christian Ziege
kicker: Herr Ziege, für wie lange haben Sie sich am vorigen Dienstag von Ihrer Familie verabschiedet?
Christian Ziege: Für sechs Wochen.
kicker: Also sehen Sie Ihrem vierten Turnier optimistisch entgegen?
Ziege: Zunächst ist es am wichtigsten, dass wir die verbleibende Zeit bis zum Start optimal nutzen. Denn es ist eminent bedeutend, das erste Spiel gegen Saudi-Arabien zu gewinnen. Ein Sieg am Anfang und eine gute Leistung legen die Basis für das gesamte Turnier.
kicker: Also kommt Saudi-Arabien als schwächster Gruppengegner zu Beginn gerade recht?
Ziege: Ich wehre mich dagegen, einen Gegner als leicht abzustufen. Die Saudis haben nichts zu verlieren, es wird nicht einfach gegen sie. So im Galopp schlägt man keine Mannschaft bei einer WM.
kicker: Aber Kamerun und Irland sind doch eindeutig stärker?
Ziege: Die Iren kenne ich, Kamerun ist Afrika-Meister: Wir brauchen uns vor keiner dieser Mannschaften verstecken.
kicker: Klingt zuversichtlich. Doch ist diese WM für die deutsche Elf nach den gravierenden Ausfällen nicht eine Mission impossible?
Ziege: Zugegeben, der Kader ist geschwächt, hervorragende Kräfte fehlen. Aber was sollen wir machen? Wir können nicht herumjammern, jetzt müssen es eben andere richten.
kicker: Ist das Zweckoptimismus?
Ziege: Überhaupt nicht. Ballack ist ein Topmann und seit Monaten in Weltklasseform. Ramelow hat viel erreicht, Schneider kommt in der öffentlichen Wertschätzung viel zu schlecht weg, Frings legte eine sensationelle Saison hin. Und dann haben wir Hamann und Jeremies, zwei sehr erfahrene Leute. Jancker trainiert super, es ist zu sehen, wie wichtig er ist.
kicker: Inwiefern?
Ziege: Weil er malocht vorne drin und so Platz für Klose schafft. Vor allem auch deshalb hat Klose so viele Chancen. Linke ist noch ein erfahrener Abwehrmann. Außerdem steht bei uns der mit Abstand beste Torhüter im Kasten. Es gibt keinen besseren als Oliver Kahn, keiner kann sich mit ihm auf eine Stufe stellen. Insgesamt haben wir Spieler, die das hinkriegen. Wir werden unseren Weg auch ohne diese vier gehen.
kicker: Aber wie sollen Nowotny, Scholl, Deisler und Wörns zu ersetzen sein?
Ziege: Dazu ein Rückblick in die Geschichte: Die deutsche Elf der WM 1994 war auch besser als die von 1990, die aber war Weltmeister geworden. 1996 stellten wir eine weniger gute Mannschaft und gewannen die Europameisterschaft. Mit den vermeintlich besten Spielern erreicht man nicht immer die größten Erfolge. Also müssen die Ausfälle nicht bedeuten, dass wir ein schlechteres Turnier spielen.
kicker: Kommt es somit mehr auf den 1996 so gepriesenen Teamgeist an?
Ziege: 1996 war der 2:0-Auftaktsieg gegen Tschechien wichtig. Von da an entwickelte sich in der Mannschaft ein Zusammengehörigkeitsgefühl, einige ältere Spieler wie Sammer und Klinsmann führten die Gruppe. Insgesamt hatte die Gruppe einen starken Charakter, größere Reibereien drangen nicht nach außen, sondern wurden sofort intern bereinigt.
kicker:
War dies bei der WM 1998 und der EM 2000 nicht der Fall?
Ziege: 2000 sowieso nicht. Jeder hatte mehr damit zu tun zu kritisieren, was verkehrt ist oder wer spielen sollte. Dagegen zu steuern war schwierig. Du wusstest gar nicht, welches Feuer du löschen solltest.
kicker: Hat sich das Betriebsklima seither wesentlich verbessert?
Ziege: Ja. Wir haben jetzt eine gute, harmonische Gruppe.
kicker: Hat sie sich auch fußballerisch verbessert?
Ziege: Nach vorne haben wir in jüngster Zeit ganz ordentlich gespielt, ja, das war schon gut. So viele Tore muss man erst schießen; nun müssen wir daran arbeiten, hinten die Null stehen zu lassen. Wir dürfen nicht so viele Chancen zulassen, dazu müssen wir uns kompakt formieren. Chancen bekommen wir auch bei der WM, sei es durch eine Ecke oder einen Freistoß; das Grundlegende aber ist, hinten gut zu stehen.
kicker: Didi Hamann sagt es genauso; sprechen da die britischen Erfahrungen aus Ihnen?
Ziege: In Liverpool wird ständig darauf hingearbeitet. Ähnlich muss es bei uns sein. Denn kreative Offensivspieler, die auch im Duell eins gegen eins etwas reißen können, haben wir.
kicker: Für welche Abwehrformation plädieren Sie? Mit vier oder drei Mann?
Ziege: Egal. Entscheidend ist, dass wir es frühzeitig wissen und dass wir es trainieren. In der Rückwärtsbewegung hatten wir in den Testspielen Probleme.
kicker: Spielen Sie lieber allein auf der linken Seite - wie gegen Wales? Oder mit einem Partner wie gegen Österreich?
Ziege: Bei einer Viererkette ist es besser, wenn ich noch einen Mann vor mir habe. Ich kann mit Bode wie mit Böhme spielen und übernehme gerne den Part mit 80 Prozent Defensivarbeit. Allein hast du es schwer, da kannst du in der Offensive wenig für Gefahr sorgen. Einerlei, ob 4-4-2 oder 4-3-3, wichtig ist, dass die Außenbahnen mit zwei Spielern besetzt sind.
kicker: Es fiel zuletzt auf, dass Sie des Öfteren heftig dazwischen treten. Typisch britisch? Oder wollen Sie - wie es heißt - Zeichen setzen?
Ziege: Wenn du das Gefühl hast, es plätschert so dahin, musst du mit einer Aktion eine Reaktion hervorrufen. Das sieht sicher blöd aus, aber anschließend ist mehr Leben im Spiel. Wenn es nötig ist, mache ich es also wieder.
kicker: Vor den Playoffs gegen die Ukraine sagten Sie, große Teams wüssten immer, dass sie Rückstände aufholen können. Ist die deutsche Elf dazu schon in der Lage?
Ziege: Natürlich, auf jeden Fall.
kicker: Haben diese zwei Playoffs die Mannschaft so zusammengeschweißt, wie die Spieler sagen?
Ziege: Die psychologische Situation dieser zwei Entscheidungsspiele wurde viel zu gering bewertet. Die Belastung im zweiten Spiel war unglaublich hoch; nicht einmal im EM-Finale 1996 habe ich einen solchen Druck gespürt. Nie zuvor, nie mehr hinterher. Schließlich wären wir die Deppen gewesen, die als Erste eine WM verpasst hätten. Unsere Reaktion auf dem Platz war sensationell. Das zeigt, wir können mit solchen Situationen umgehen.
kicker: Die Öffentlichkeit scheint mit dem Achtel- oder Viertelfinale zufrieden. Erleichtern die geringen Erwartungen die Aufga
be?
Ziege: Eigentlich ist es wurscht, was außen gesagt wird. Ein Turnier ist ein Turnier. Und die Mannschaft tut alles, um erfolgreich zu sein. Wir haben große Ziele. Scheiden wir früh aus, kriegen wir sowieso auf die Fresse, dann heißt es, ohne die Verletzten ging es halt nicht.
kicker: Bewirkt dies bei den jetzt Auserwählten einen Gegeneffekt?
Ziege: Viele Spieler denken sicher so, wenn es ständig heißt, ohne die Verletzten könnten wir nichts erreichen: Sind wir denn die Trottel? Das ist ein Schlag ins Gesicht.
kicker: Sie sprachen von großen Zielen: Was heißt das?
Ziege: Mein Ziel ist, ins Endspiel zu kommen.
kicker: Ein realistisches Vorhaben?
Ziege: Klar. Ich kann doch nicht sagen, ich fliege im Viertelfinale raus. Nach der Gruppenphase ist alles möglich.
kicker: Spricht da aus Ihnen ein neuer Führungsspieler, der die Kollegen mitreißen will?
Ziege: Ich mag nicht öffentlich sagen, dass ich Führungsspieler sei. Damit wird man auch kein Führungsspieler.
kicker: Wie denn?
Ziege: Indem man den anderen hilft, auf dem Platz, außerhalb. Das tue ich.
kicker: Also sind Sie ein Führungsspieler?
Ziege: Ich gehöre dazu. Auch Kahn ist dabei, Ballack. Gegen Amerika Ende März war ich sogar Kapitän.
kicker: Ein Jahr zuvor deuteten Sie in einem kicker-Interview Ihren Rücktritt an, weil Sie nur Ersatz waren. Wie ist Ihr Stellenwert heute?
Ziege: Darüber mache ich mir keine Gedanken, ich weiß ja nicht, was die anderen über mich denken. Insgesamt bin ich zufrieden, ich versuche mich einzubringen und habe meine Position.
kicker: Sie sind 30 und haben 66 Länderspiele: Wie lange gibt es den Nationalspieler Ziege noch?
Ziege: Ich strebe 100 Länderspiele an.
kicker: Also ist die WM 2006 noch ein Ziel?
Ziege: Auf jeden Fall, wenn es die Gesundheit und Form zulassen. Viele Spieler machten mit 34 oder 38 Jahren noch ein Turnier mit.
kicker: Sehen Sie - wie manche Experten - die anstehende WM auch eher als Testlauf für 2006?
Ziege: Unsinn. Wir können doch nicht zur WM fahren und sagen, wir üben für 2006.
kicker: Was muss in den kommenden gut vier Wochen passieren, damit Sie Ihr viertes großes Turnier als Erfolg einordnen?
Ziege: Meine Leistung muss dazu beitragen, dass die Mannschaft erfolgreich spielt. Und das heißt: Endspielteilnahme.