Manuel Ladas 01.05.2002
Eine aktuelle Studie zur Wirkung und Nutzung von Gewalt in Computerspielen sieht keine generelle Gefährdung
Nach unbegreiflichen Ereignissen wie dem Massaker in Erfurt haben einfache Erklärungsansätze Hochkonjunktur. Und so waren auch diesmal in der Politik und in einigen Medien die Ursachen für die Tat des 19-jährigen Amokschützen schnell ausgemacht: Gewaltvideos und 'Killerspiele' ( Die Wahrheit über das Massaker in Erfurt).
Zumindest bezüglich der Letzteren zeichnet eine (vom Autor dieses Artikels verfasste) noch unveröffentlichte Dissertationsschrift an der Universität Münster jetzt ein differenzierteres Bild. Für die Studie wurde der aktuelle Stand der Computerspielforschung ausgewertet und auf dieser Basis eine internetgestützte schriftliche Befragung von 2141 Computerspielern aus dem deutschen Sprachraum durchgeführt. Damit dürfte die empirische Untersuchung zu den umfangreichsten ihrer Art zählen.
Von einer starken, einseitigen Medienwirkung, der der Nutzer willenlos ausgeliefert ist, wird in der heutigen Medienwirkungsforschung nicht mehr ausgegangen. Die Studie beschäftigte sich daher vielmehr mit der Nutzerperspektive: Wer spielt eigentlich wann und warum welche gewalthaltigen Computerspiele? Welchem Zweck dient die Gewalt in Computerspielen, wie wird sie wahrgenommen und wie wirkt sie auf individuell verschieden veranlagte Nutzer?
Gewalt in Computerspielen wird Wettkampf, nicht als Abbild realer Kämpfe erlebt
Zu den Spielanlässen, Motivationen und gesuchten Gratifikationen der meisten befragten Computerspieler passen zwar offenbar tatsächlich am besten hoch gewalthaltige Computerspiele mit mehreren menschlichen Gegenspielern, die demzufolge auch sehr häufig genutzt werden. Doch kann hier aufgrund der besonderen Eigenschaften der verschiedenen Spielgenres und der Computerspiele im Allgemeinen (z.B. der ausgesprochen hohen Interaktivität dieses Mediums) keinesfalls von einer generell verrohenden Wirkung ausgegangen werden, wie sie möglicherweise ein unbedarfter Zuschauer (der selbst nicht spielt) folgern könnte.
Virtuelle Spielgewalt wird vom Nutzer im Allgemeinen stark ästhetisiert, empathiefrei und rein funktionalistisch - also nicht im Sinne einer Schädigung von Opfern - wahrgenommen und genutzt. Dementsprechend wird sie von den meisten Spielern sehr stark gegenüber realer Gewalt gerahmt - die Befragten sahen meist keinen moralischen Zusammenhang zu 'echter' Gewalt. Auch die oftmals vermutete Habitualisierung ('Abstumpfung') durch die Nutzung gewalthaltiger Genres konnte nicht bestätigt werden.
Gewalt in Computerspielen ist nach den Ergebnissen der Untersuchung für die Spieler offenbar ein spannender, herausfordernder Wettkampf und ermöglicht die schadensfreie virtuelle Simulation von Macht und Kontrolle. Sie ist weniger ein Abbild realer Gewalt als vielmehr eine abstrakte Metapher für Wünsche und Motivationen der meist unter 25-jährigen, männlichen Spieler - Wünsche und Motivationen wie Herausforderung, Erfolg und Nervenkitzel.
Weniger der bildliche Realismus oder die "Ich-Perspektive" als die Spielstory scheinen die Wirkung von Gewalt stark zu beeinflussen
Auch auf der individuellen Ebene wurde eine auffällig starke Verknüpfung von Nutzermotivation und -interessen mit dem Angebot bestimmter Spielgenres festgestellt. So fanden sich die strukturellen Merkmale bestimmter Hobbys sowie Buch- und Filmvorlieben der Befragten sehr häufig in den bevorzugten Computerspielgenres wieder. Dies gilt allerdings teilweise auch für gewaltbefürwortende Einstellungen der Spieler. Auffälligkeiten ergaben sich hier interessanterweise jedoch nur im Zusammenhang mit solchen gewalthaltigen Genres, die Kriegshandlungen realistisch und distanziert in Szene setzen, z.B. (Kriegs-)Strategiespiele und militärische Simulationen. Genres mit explizit dargestellten persönlichen Gewalthandlungen, z.B. 3D-Shooter und actionreiche Rollenspiele, waren demgegenüber tatsächlich vollkommen unauffällig; solche Genres zeichneten sich darüber hinaus auch durch eine im Vergleich zu anderen Genres deutlich verstärkte Rahmung gegenüber der Realität aus.
Offenbar sind distanziert-realistische und blutlos präsentierte Kriegsszenarien in Computerspielen der Wahrnehmung realer Gewalt (oder deren üblicher medialer Aufbereitung, z.B. in den Fernsehnachrichten) zumindest äußerlich strukturell etwas ähnlicher, was möglicherweise 'gewaltbefürwortenden' Spielern den Zugang zu solchen Computerspielen erleichtert. Die überzogenen, grotesken 'Metzelorgien' vieler 3D-Shooter und Rollenspiele hingegen weisen hierfür wohl nicht genug strukturelle Ähnlichkeiten zur Wahrnehmung anderer (realer oder medialer) Gewaltarten auf.
Für komplexere Transfers in die Realität sind Computerspiele nach den Ergebnissen der Untersuchung eindeutig nicht geeignet. So stellte nur ein sehr kleiner Teil der Befragten bei sich selbst längerfristige Wirkungen fest, die über ein Nachdenken oder Unterhalten über die Spiele hinausgehen. Besonders die ungefilterte Übernahme von Spielhandlungen in die Realität wurde von den meisten Spielern deutlich verneint, wäre also eher eine Folge psychischer Störungen einzelner Individuen als eine direkte Folge der Spielnutzung im Allgemeinen.
Es ergaben sich in der Studie jedoch Hinweise, dass das Interesse an Waffen und waffenbezogenen Handlungen wie z.B. der Jagd oder dem 'Gotcha'-Spiel durch die Nutzung entsprechender Genres geweckt werden kann - zwischen solchen Interessen einzelner Spieler und der Präferenz für hoch gewalthaltige Genres fanden sich deutliche Zusammenhänge. Es wird jedoch eingeräumt, dass die Kausalität hier ebenso genau umgekehrt sein kann: Waffeninteresse als Auslöser für eine Bevorzugung von Gewaltspielen.
Eine Schlüsselfunktion bei der Wirkung und Nutzung von Gewalt in Computerspielen - z.B. bezogen auf Empathie und Identifikation mit den Spielfiguren - kommt entgegen der allgemeinen Auffassung nicht etwa technischen Merkmalen wie der 'Ich'-Perspektive, sondern vielmehr der Spielstory zu. So hängt das empathische Empfinden der Spieler, z.B. in Form von Mitleid mit den Spielfiguren, wesentlich vom Vorhandensein einer ausgeprägt
en, psychologisch tiefen Spielgeschichte ab. Eine solche ist bei Computerspielen bis zum heutigen Tage jedoch fast nie anzutreffen. Dementsprechend fiel das Mitleid der meisten befragten Spieler mit ihren virtuellen Spielgegnern auch äußerst gering aus; die gegnerischen Spielfiguren wurden insgesamt wenig emotional wahrgenommen - weder als Opfer, noch als Feinde, sondern tatsächlich eher als 'Inventar'.
Quintessenz der Studie: Politik, Jugendschutz und auch Wirkungsforschung müssen sich von der Vorstellung lösen, dass Gewalt in Computerspielen mit realer oder filmischer Gewalt vergleichbar sei. Gewalt in Computerspielen ist zwar ein wesentliches und vielgenutztes Element, hat jedoch einen von filmischer oder realer Gewalt vollkommen verschiedenen Sinn für die Nutzer. Virtuelle Gewalt wird offenbar wettbewerbsähnlich sowie zumeist empathiefrei und rein funktionalistisch wahrgenommen und genutzt, nicht als Mittel der Schädigung im Sinne eines Täter-Opfer-Verhältnisses.
Gerade die aktuell stark kritisierten 3D-Shooter wie 'Counterstrike' sind für die Spieler nicht mehr als ein virtuelles Räuber-und-Gendarm-Spiel. Und wo für die Nutzer keine schockierende Gewalt erkennbar ist, kann diese auch nicht 'abstumpfend' wirken oder gar zu folgenreichen realen Gewalttaten anstacheln. Oder, um die Frage aus dem Titel des Artikels zu beantworten, ob denn nun die Spiele oder die Spieler brutal sind: Weder noch.
Quelle: Telepolis